Monatlich wechselnde Leseprobe:

ＳＣＨＡＦＷＯＬＦ

Als die Jäger kamen, war es aus Sicht der Wölfe ein Gemetzel. Die Menschen waren gut vorbereitet. Sie hatten das Rudel ausgekundschaftet und den richtigen Moment für ihren Überfall abgewartet.

Nur wenige Stunden vorher hatte eine Wölfin einen einzigen Welpen geworfen. Ihm galt nun ihr letztes Sinnen. Sie packte ihr Junges am Nacken und rannte und rannte. Nur der Gedanke, ihren Nachwuchs irgendwie zu retten, beseelte sie noch. An einer Schafsherde vorbei hetzend, sah sie die Gelegenheit gekommen und warf den kleinen Wolf in dessen Mitte. Leicht hätte er hier zertreten werden können. Doch ein Schaf, das selbst sein eigenes Kleines an eine Krankheit verloren hatte, nahm sich des Wolfes an. Es erzog ihn liebevoll so, wie ein Schaf eben ein Schaf aufzieht. Die Herde gewöhnte sich an den Wolf in ihren Reihen und der Wolf hielt sich für ein Schaf. Er trank und fraß, was Schafe trinken und fressen, und er blökte auch wie sie.

Ein Jahr später streifte wieder ein Wolf durch die Gegend. Er entdeckte das seltsame Konstrukt einer Schafsherde, in deren Mitte ein Wolf hauste. Ein Feuer ergriff ihn, kein Feuer der Wut, doch ein Feuer, hier etwas tun zu müssen. Das sollte so nicht sein! Er spritzte in die Herde, worauf diese auseinander stob. Nur der Schafwolf blieb. Irgendetwas in ihm trieb ihn dazu, standhaft zu bleiben. Der ältere Wolf sprach zu ihm: „Was ist das hier! Du bist ein Wolf und lebst mitten unter Schafen! Komm mit mir und lebe ein Leben, das einem Wolf gerecht wird, so wie die Schafe eines führen, das Schafen gerecht wird!“ Der Schafwolf vor ihm verstand von all dem kein Wort, denn er kannte ja nur die Sprache der Schafe. Da packte ihn der Alte am Nacken und rannte los. Eine leise Erinnerung erwachte im Schafwolf daran, so schon einmal getragen worden zu sein. Starker Wind erhob sich und es begann in Strömen zu regnen. Der Alte jedoch rannte weiter, bis sie einen Waldsee erreichten. Hier ließ er den Schafwolf ab. Zuerst war der See noch trüb vom aufgewühlten Schlamm und Wellen tanzten an seiner Oberfläche. Nachdem aber der Sturm verklungen war, beruhigte sich das Wasser und der Schlamm setzte sich ab. Nun konnte der Schafwolf in sein klares Spiegelbild blicken. Und leise flüsterte er: „Wolf.“

[aus: „Der Glücksdrachen“,

52 heilsame Geschichten für Erwachsene, gesammelt und neu gefasst von Oliver Maar, 72 Seiten/DINA5/Hardcover 8,90 € zzgl. Versandkosten (Versand nur innerhalb Deutschlands)]